Schreiben verbindet Generationen
Schreibwerkstätten gemeinsam für Jung und Alt
Es begann als Experiment und wurde ein Überraschungs-Erfolg: Schreibwerkstätten, in der Kinder, Jugendliche und Senioren zusammen Geschichten zu einem gemeinsamen Thema verfassen. Ich hatte bis dahin schon sehr viel Erfahrung mit Geschichten schreibenden Kindern gesammelt, da ich seit nunmehr vier Jahren regelmäßig Kurse für kreatives Schreiben in Schulen, Bibliotheken, Museen und Theatern veranstalte. Mit schreiblustigen Erwachsenen hatte ich ebenfalls schon einige Schreibwerkstätten veranstaltet und es spukte mir seit geraumer Zeit im Kopf herum, dass es doch ungemein befruchtend sein müsste, Jung und Alt zusammen zum Schreiben zu bringen.
Unterstützung für dieses Vorhaben bekam ich von Lothar Ganter, dem Leiter des Kirchlichen Bibliothekswesen der Diözese Freiburg im Breisgau, und es gelang uns auf Anhieb gleich zwei Schreibwerkstätten für Jung & Alt zu organisieren. Da sie im November und Dezember letzten Jahres stattfanden, wählten wir passend zur Vorweihnachtszeit das Thema „Engel“.
In Schönau und in Aglasterhausen fanden in den Katholischen Öffentlichen Bibliotheken vier Schreibtreffen statt von jeweils zwei Stunden Dauer. Die Teilnehmer waren Senioren und Junioren im Alter von 8 bis 84 (jeweils 6 Kinder, 6 Erwachsene). Während der Schreibstunden kamen sich die TeilnehmerInnen schnell näher und es fand ein ausgesprochen reger und sehr intensiver Gedankenaustausch über die Generationsgrenzen hinweg statt. Für mich war es überraschend zu beobachten, wie eng begrenzt doch die Rollen sind, in denen man sich normalerweise begegnet. Für die Kinder waren die Senioren erst mal nur (uninteressante) alte Leute, und auch die Senioren untereinander – die sich nicht alle kannten – begegneten sich mit großer Zurückhaltung. Man tauschte erst mal nur Floskeln aus. Auch was das Schreiben betraf, waren die Senioren sehr am Zweifeln, ob sie überhaupt einen Satz zu Papier bringen würden, ganz anders natürlich die Kinder – die – von der Schule her schreibgewohnt – sozusagen schon mit gespitzten Stiften in den Startlöchern saßen und nur auf das Signal zum Losschreiben warteten.
Doch zunächst mussten wir uns natürlich dem Thema „Engel“ annähern, was nicht so einfach war. Denn der Zugang war zunächst verstellt durch die vielen, süßen, kraftlosen Kitsch-Engel, die sich in den Köpfen vor allem der Kinder quergestellt hatten. Da halfen die Senioren weiter, denen plötzlich Kindheitserlebnisse einfielen, wie es war, als sie wochenlang aus dem Weihnachtszimmer ausgesperrt blieben, der Duft der Weihnachtsbäckerei, das Schmücken des Baumes, die knisternde Vorerwartung, die Weihnachtslieder – und mit einem Mal lag Seelenenergie im Raum, die die Kinder gierig aufsaugten. Damit waren wir den Engel mehrere Dimensionen nähergekommen und wieder waren es die Senioren, denen jetzt weitere wichtige Erlebnisse aus ihrem Leben einfielen, als ihnen ein echter Schutzengel zur Seite gestanden hatte, der sie zum Teil sogar aus akuter Lebensgefahr gerettet hatte. Nun war auch den bis dahin den Senioren eher ablehnend bis neutral entgegenstehenden Kindern klar: diese alten Menschen hatten so einiges zu bieten, wo sie – trotz Engel-Video-Erfahrung – nicht mithalten konnten.
Doch nicht nur das – auch das Eis der Formalität und der Steifheit der Rollen zwischen den Senioren begann langsam zu schmelzen, denn man hatte einen Weg gefunden, wirklich von sich und aus seinem Leben zu erzählen, und nicht nur die abgepackten, klinisch sauberen Erinnerungs- und Gesprächskonserven auszutauschen, wie man es schon seit Jahren (auch in der eigenen Familie!) gewohnt war. Durch die Senioren ging ein tiefes Aufatmen, denn eine schmale Erinnerungsschneise war freigelegt, aus der sich jetzt – wider aller Erwarten – Geschichten vordrängten, die erzählt beziehungsweise aufgeschrieben werden wollten.
Die ungehemmte Schreibfreude der Kinder übertrug sich bald auf die Senioren und siehe da – es entstanden viele wunderbare, tiefsinnige, anrührende, witzige, traurige Geschichten, die die Schreibgruppe eng zusammenschweißte. Die Engels-Erinnerungen und Erzählungen der Senioren halfen den Kindern, Abstand zu nehmen von den kraftlosen verkitschten Engelsbildern, die ihnen der Kommerz präsentierte, und wieder Zugang zu finden zu den archetypischen Bildern und auch Erlebnissen, die sie in ihren Seelen trugen. So entstand manches sehr intime Gespräch, und auch die Kinder offenbarten Geheimnisse, die sie noch niemals einem anderen erzählt hatten. Auch sie waren schon Engeln begegnet und hatten diese Erlebnisse aber in ihrem Inneren verschlossen und zum Teil noch nie jemandem erzählt (auch den eigenen Eltern nicht). Ab da entspann sich ein wunderbareres Geben und Nehmen. Die Senioren erzählten und schrieben die Erlebnisse ihrer Vergangenheit auf, die Kinder überraschten die Senioren mit ihren witzigen und fantasievollen Engelsgeschichten (siehe die Geschichtenauswahl).
An ein Erlebnis erinnere ich mich noch ganz besonders: Als Luzia, die älteste (87jährige) Teilnehmerin ihre Geschichte vorlas, die darum ging, wie sie von einem Engel aus dem Feuersturm von Dresden (im 2. Weltkrieg) gerettet wurde, konnten die Kinder es kaum glauben, dass sie das „in Echt“ erlebt hatte. Sie vermuteten zunächst, dass sie ein Video nacherzähle. Als dann klar wurde, dass Luzia dieses Grauen am eigenen Leib erlebt hatte und selbst über unzählige tote Menschen gestiegen war und Todesangst erlebt hatte, konnten die Kinder kaum aufhören nachzufragen. Es erschütterte sie, dass man das, was sie nur aus Filmen kennen, wirklich erleben kann.
Wie reich und prall voll mit Erfahrungen ihre Leben eigentlich waren, wurde den Senioren erst nach und nach bewusst, und sie waren plötzlich stolz auf ihre Vergangenheit. Es stimmte mich traurig, wie wenig diese Erinnerungsschätze beachtet worden waren, und die Senioren gestanden, dass sie eigentlich niemanden hätten, der sich dafür interessiert. In ihren Familien wurden solche Erinnerungen anscheinend nicht als Erzählungen gepflegt und erst der Kontakt mit fremden Kindern, die ihre Enkel und Urenkel hätten sein können, holte sie aus der verstaubten Versenkung hervor.
Am Ende war eine richtige Zusammengehörigkeit spürbar, vor allem die Senioren waren sehr betrübt, als die SWS vorbei war, weil sie erleben durften, wie viel sie mit ihrer Lebenserfahrung den Jüngeren hatten geben können. Jedes Mal, wenn ich in der Zwischenzeit eine oder einen der Teilnehmer – alte oder junge – auf der Straße getroffen hatte, berichteten sie mir mit leuchtenden Augen, wie schön diese Erfahrung in der Schreibwerkstatt war, und alle wussten noch, wer welche Geschichte geschrieben hatte. Dieser kreative Schreibtreff hatte eine wahrlich nachhaltige Wirkung!
Textproben aus dem Workshop. PDF. 24 Seiten. 560 KB
Dr. Andrea Liebers arbeitet als Autorin, Leiterin von Schreibwerkstätten und Initiatorin verschiedener Projekte; sie lebt in Heidelberg.