Schreibend Leben in Besitz nehmen
oder Die Suche nach dem roten Faden
Schreibwerkstätten für ältere Menschen
von Dagmar Heidecker
Impulse aus einem Seminar zum Thema „Schreibend Leben in Besitz nehmen oder die Suche nach dem roten Faden“ vom 26.-28. Juni 2006 im Bundesinstitut für Erwachsenenbildung St.Wolfgang/Strobl. Referentin: Renate Welsh, Schriftstellerin
Angebote für Schreibwerkstätten für ältere Menschen gibt es von den verschiedensten Anbietern in der Erwachsenenbildung und Seniorenarbeit, in verschiedenen Formen und mit unterschiedlichsten Zielen und Ansprüchen:
- mit Senioren, für Senioren, von Senioren, generationenübergreifend
- allgemein zugänglich, speziell für Frauen, speziell für Männer
- kreatives Schreiben, literarisches Schreiben, autobiografisches Schreiben, zur Zeitzeugenarbeit, zur Therapie, als Methode um neue Zugänge und Sichtweisen zu eröffnen, journalistisches Schreiben, Zeitung machen, zur Anregung und zur Unterstützung von Schreibprozessen, zum Erlernen des Umgangs mit E-Mail und Internet,
- persönliche Geschichte(n), fiktive Geschichten, Dokumentation .....
- in Kursen, Gruppen, Erzähltreffs, im Internet .....
Schreibend Leben in Besitz nehmen
Die Auseinandersetzung mit dem eigenen Leben spielt in den späteren Lebensjahren eine besondere Rolle. Gerade im Alter ist es wichtig sich der eigenen Identität zu versichern. Dazu gehört, sich zu erinnern und das eigene Leben mit allen guten und schlechten Erfahrungen in Besitz zu nehmen in der Hoffnung einen roten Faden zu sehen.
Leben ist kein gleichförmiger Prozess, es verläuft zumeist krisenhaft. Lebensgeschichte entsteht nicht nur durch aktive Handlungen des einzelnen Menschen, sondern vielmehr aus dem, was ihn umgibt und was ihm widerfährt. Der Mensch versucht nachträglich sich aus den vielen Teilen seines Erlebten einen Reim auf sein Leben zu machen. Biografie, ob erzählt oder aufgeschrieben, ist immer eine subjektive Konstruktion. Und zu keinem Zeitpunkt empfinden wir die Vergangenheit gleich, jede Lebensspanne hat ihre eigene Interpretation.
Das nur Gesprochene ist auf Wasser geschrieben, schriftlich Fixiertes kann man auch im Nachhinein betrachten und dadurch in Besitz nehmen. Letztlich ergibt sich ein Bild aus der Sicht der Texte und aus dem, was dazu ungesagt bleibt. Manches Mal begeben wir uns in beobachtende Positionen, beschreiben von gleichsam objektiver Warte aus. Oft jedoch erfahren wir ein Stück Zeitgeschichte im individuellen Kontext, eröffnen uns die Texte die Option, unser Leben zu gestalten und Subjekt der Geschichte zu werden, persönlich und politisch.
Die Suche nach dem „roten Faden“ unterstützen
Unter behutsamer Anleitung können Sprache und Schreiben der Erfahrung Gestalt verleihen und zu einer neue Welt- und Selbsterfahrung verhelfen:
- Biografie ist nicht Chronologie des Lebens. Der Fluss der Erinnerung läuft oft völlig konträr zur Chronologie. Erinnerung kommt bruchstückhaft daher und es geht darum, die Bruchstücke zu einem ganzen zusammenzusetzen. Auch wenn, wie bei einem alten Mosaik, Leerstellen bleiben.
- Das Mitteilen von Erfahrung verlangt ein Sich-Einlassen auf Sprache und Bilder. Damit verbundene Ängste und Blockaden können aufgelöst, werden, wenn man den Schreibprozess in kleine Schritte zerlegt, die vom einzelnen Wort als vollgültigem Beitrag zum Satz und dann zum Text führen.
- Es ist viel leichter über andere zu schreiben als über sich selbst. Wir werden von jeder Begegnung im Leben mitgeprägt. Konkrete Begegnungen und Begebenheiten mit allen Sinnen erinnern und Gefühle beschreiben lässt lebendige Bilder entstehen (wer, wie hat er oder sie ausgesehen, wo, was ist dabei geschehen, wie habe ich mich gefühlt.....)
- Anregende Erinnerungs- und Schreibanlässe sind konkrete Ereignisse und Begebenheiten, als Schreibauslöser können Dinge des Alltags dienen. Z.B. den eigenen Namen buchstabieren; dem anderen einen Text zu seinem Namen schenken; Sätze aus der eigenen Biografie, die von besonderer Bedeutung waren und noch sind; persönliche „Schätze“; Situationen, die besondere, starke Gefühle hervorgerufen haben und immer noch hervorrufen; Alltagsgeschichte(n) und Alltagsgegenstände: „Kochlöffelgeschichten“, „Schul“geschichten, Mein erster Arbeitstag,...).
- Mitteilung braucht auch Zu-hören, An-hören und Hinein-hören und Rückmeldung. Bin ich verstanden worden? Was hat der Text ausgelöst? Den eigenen Text lesen, aber auch vorgelesen bekommen gibt ihm eine neue Gestalt, bringt das persönliche Erleben in einen neuen Blickwinkel. Die Erinnerungen von anderen sind auch Auslöser eigener verschütteter Erinnerungen.
- Schreiben ist normalerweise eine einsame Angelegenheit. Der Wechsel von Gruppen- , Partner- und Einzelarbeit, von Mitteilen und Zuhören fördert die Achtsamkeit und Konzentration sowie die verschiedenen Sichtweisen. Verfestigte Klischees können aufgebrochen werden.
- Zeitvorgaben für die gestellten Aufgaben zwingen zur Straffung der Gedanken und zum Mut zur Lücke.
- Regeln der Rechtschreibung sind irrelevant, wenn es um Schreiben an sich geht
Renate Welsh , Schriftstellerin
viele Jugendbücher sowie biographische und zeitgeschichtliche Bücher,
zahlreiche Literaturpreise, macht Schreibwerkstätten mit Jugendlichen; Erwachsenen und alten Menschen..
Literaturhinweise
BIOGRAPHIEARBEIT
Blimlinger, Eva; Ertl, Angelika u.a.: Lebensgeschichten. Biographiearbeit mit alten Menschen, Vincentz Verlag, Hannover, 2. Auflage 1996
Kerkhoff, Barbara; Halbach, Anne: Biographisches Arbeiten. Beispiele für die praktische Umsetzung, Vincentz Verlag, Hannover 2002
Klingenberger, Hubert; Zintl, Viola: Eigenständig: Biografische Erfahrungen nutzen - Beziehungsreich leben - Quellen der Ermutigung, Reihe: Lebensmanagement konkret Bd. 2, Don Bosco Verlag, München 2001
Kotre, John: Lebenslauf und Lebenskunst. Über den Umgang mit der eigenen Biographie, Hanser Verlag, München 2001
Osborn, Caroline; Schweizer, Pam u.a.: Erinnern. Eine Anleitung zur Biographiearbeit mit alten Menschen, Lambertus Verlag, Freiburg 1997
Ruhe, Hans-Georg: Methoden der Biografiearbeit. Lebensgeschichte und Lebensbilanz in Therapie, Altenhilfe und Erwachsenenbildung, Beltz Verlag, Weinheim 1998
Kuratorium Dt. Altershilfe, (Hrsg.); Weingandt, Birgit: Biographische Methoden in der Geragogik - qualitative und inhaltsanalytische Zugänge, KDA-Schriftenreihe "thema" Bd. 167, Eigenverlag, Köln 2001
SCHREIBEN
Altemöller, Eva-Maria: Schreiben ist Gold. Coppenrath Verlag, Münster 2003
Barthes, Roland: Die Lust am Text. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1992
Fritzsche, Joachim: Schreibwerkstatt. Klett Verlag, Stuttgart 1991
Gesing, Fritz: Kreativ schreiben. DuMont Verlag, Köln 2000
Pogoda, Gerda Marie: Kreativ Schreiben: von der Idee zum Text. mvg-Verlag, Landsberg am Lech 2000
Rico, Gabriele L.: Garantiert schreiben lernen. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1984
Schneider, Wolf: Wörter machen Leute. Piper Verlag, München [u.a.] 2000
Werder, Lutz von: Einführung in die philosophische Lebenskunst. Schibri-Verlag Berlin [u.a.] 2000